„Der Weitsichtige”

Laudatio: Karl-Hermann-Flach-Preis für Hans Werner Sinn - von Dr. Rainer Hank
Verleihung des Karl-Hermann-Flach-Preises an Hans-Werner Sinn
Prof. em. Dr. Dr. h.c. mult. Hans-Werner SinnFotografin: A. Schellnegger

1.

„Für die einen ist der Liberalismus eine stinkende Leiche, deren eines oder andere Organ zwar noch im Körper der neuen Gesellschaft weiterlebt, die aber insgesamt ins Grab der Geschichte gehört. Für die anderen ist der Liberalismus eine Konserve, deren Inhalt zwar steril geworden, aber immer noch ausreicht, wohlerworbene Rechte und heilige Besitzprivilegien bestimmter Schichten mit dem Aroma übergeordneter Ideale zu würzen.“

Mit diesen Sätzen eröffnet Karl Hermann Flach vor fünfzig Jahren seine Streitschrift „Noch eine Chance für die Liberalen - oder die Zukunft der Freiheit“. Flachs Antwort folgt auf der Stelle: „In Wahrheit ist der Liberalismus weder eine stinkende Leiche, noch eine sterile Konserve. Er konkretisiert nur den immer wieder aufbrechenden Freiheitsdrang der Menschen. Die ersten liberalen Neigungen haben sich gezeigt, als die Menschen zu denken begannen, und die letzten werden erst mit den letzten Menschen verschwinden.“

Flachs Thesenschrift von 1971, das sehen wir heute genauer, ist nicht nur die Blaupause für die „Freiburger Thesen“ der FDP und die soziall-liberalen Koalition unter Willy Brandt. Der Verweis auf den „immer wieder aufbrechenden Freiheitsdrang der Menschen“ ließ auch jenseits aller Parteipolitik damals schon hellsichtig eine Ahnung aufscheinen vom Fall der Mauer und dem Ende des Sozialismus 1989/90. Nie war in unserer Generation mehr Liberalismus in der Welt als in den neunziger Jahren des 20. Jahrhunderts. Ich denke an Tadeusz Mazowiecki und Lescek Balcerowicz in Polen, an Vaclav Havel und Vaclav Klaus in Tschechien. Aber auch an Bill Clinton, Tony Blair, Gerhard Schröder (damals noch nicht in der Rolle des Putin-Freundes). Und viele andere.

 

2.

Die Theorie zu dieser Welt stammt bekanntlich von Francis Fukuyama. Im Sommer 1989, noch vor dem Mauerfall, wurde er weltberühmt mit einem einzigen Zeitschriftenartikel, der die Überschrift „Das Ende der Geschichte?“ trug. Drei Jahre später wurde daraus ein Buch, der Titel blieb stehen - bloß das Fragezeichen war verschwunden. Das war dann doch etwas voreilig, wie wir heute wissen.

Fukuyamas damalige These: Totalitäre Systeme, Kommunismus und Faschismus zum Beispiel, stellen keine politischen Alternativen mehr dar. Vielmehr sei der Weg frei für eine liberale Demokratie, ein irdisches Paradies der Freiheit. Totalitäre Systeme seien zum Scheitern verurteilt, weil sie der liberalen Grundidee (Schutzrechte des Bürgers gegen den Staat, Rechtsstaatlichkeit, Marktwirtschaft) widersprechen. Ein bisschen naiv war das schon damals - nach dem Motto: Das Gute setzt sich am Ende in der Geschichte durch.

Liberalismus hält demokratische Regierungen in Schach gegen deren Verführungsanfälligkeit für Populismus und Nationalismus. Gewaltenteilung relativiert die Macht der Exekutive, schützt Minderheiten gegen demokratische Mehrheiten. Für Fukuyama ist „klassischer Liberalismus“ ein Instrument, „in pluralistischen Gesellschaften Toleranz friedlich zu managen“. Dass die Befolgung von Regeln in aller Interesse ist, gehört zu den zentralen Überzeugungen des Liberalismus. Freiheit, Toleranz und Respekt vor der persönlichen Autonomie sind Werte, welche muss eine Regierung garantieren muss, die ihrerseits durch das Recht diszipliniert wird und dieses auch respektiert. Nichts davon darf eine demokratisch gewählte Regierung über Bord werfen. Liberalismus ohne Marktwirtschaft geht nicht. Demokratie ohne Liberalismus geht, wie wir seit Victor Orban wissen. Ob Liberalismus ohne Demokratie geht, ist umstritten.

Dass der Liberalismus inzwischen allenthalben auf dem Rückzug ist, lässt sich nicht übersehen. „Freedom House“, ein Thinktank in Washington, subsumiert für das Jahr 2020 nur noch 20,3 Prozent der Regierungen der Welt unter „free“ (etwa Deutschland, Frankreich, Großbritannien, USA, Südafrika). 41,3 Prozent sind „not free“ (Russland, China, Venezuela); 38,4 Prozent sind „partly free“ (Ukraine, Ungarn, Singapur, Indien). Verglichen mit dem Jahr 2005 sind die Veränderungen in Richtung Illiberalität dramatisch: Damals zählten 46 Prozent der Staaten als „frei“ und 31,1 Prozent „teilweise frei“. 

Fukuyama arbeitet sich bis heute an seinem Fehlurteil ab. Sein gerade erschienenes neuestes Buch trägt den Titel „Liberalism and its discontents“ („Liberalismus und seine Zumutungen“). Es wurde vor Ausbruch des Ukraine-Krieges abgeschlossen, hat aber an Brisanz noch einmal gewonnen. Die These: Der Liberalismus könnte Mitschuld tragen an der schwindenden Zustimmung zu den Werten der Freiheit und dem Siegeszug der Populisten, Autokraten und Diktatoren.

Wie das? Einerseits hätten „dogmatische Neoliberale“ (Ökonomen wie Gary Becker oder Milton Friedman), für Fukuyama sind das „Rechte“, aus der Idee freier Märkte eine Art absoluter Religion gemacht, Krisen des Kapitalismus nicht verhindert und zugelassen, dass in vielen Ländern (namentlich in USA) die Ungleichheit der Einkommen und Vermögen unanständig und unerträglich geworden sei. Zugleich sei von den „Linksliberalen“ die Idee der Toleranz und freien Rede als Privileg zum Machterhalt weißer Männer ideologiekritisch dekonstruiert worden („repressive Toleranz“). Aus dem liberalen Auftrag, Ambiguität auszuhalten, wurde eine dogmatische Identitätspolitik: Gruppenloyalität unterscheidet zwischen Freund und Feind. Kurzum: Wenn der Liberalismus selbst kein gutes Beispiel mehr gibt, braucht man sich nicht zu wundern, dass Machthaber allerorten sich dem populistischen Nationalismus oder religiösem Fundamentalismus verschreiben.

Es könnte also sein, dass wir inzwischen wieder bei der Feststellung Karl Hermann Flachs angekommen sind, wonach der Liberalismus für viele nur noch eine stinkende Leiche oder Konserve mit sterilem Inhalt ist. Und das Heil stattdessen in einem demokratisch verbrämten, autokratischen Nationalismus gesucht wird. Die regelbasierte, liberale Welt wird abgelöst von einer machtbasierten, illiberalen Welt.

 

3.

Hans Werner Sinn war nie ein „Neoliberaler“, und ein Dogmatiker ist er erst recht nicht - auch wenn seine Gegner bis heute versuchen, ihn in die ideologische Ecke zu stellen. Nach Sympathien für die sozialistische Linke in der Jugend - die teilt er mit seiner, meiner Generation - ließ er sich im Lauf des Studiums von der Überlegenheit des dezentralen Organisationprinzip der Märkte faszinieren. Volkswirtschaftslehre ist das Gegenteilt von Religion, sei sie sozialistisch oder dogmatisch-neoliberalistisch.

Gerade deshalb aber ist Sinn durch und durch ein klassischer Liberaler. Zum Liberalismus kam er nicht von der Philosophie und auch nicht so stark von der deutschen Tradition der Ordnungspolitik, sondern von der Ökonomie der Neoklassik. Dass der Staat dem Markt die Regeln vorgibt, war für ihn immer selbstverständlich: Damit das Spiel läuft, braucht es einen Schiedsrichter - ohne ihn würden die Spieler mit den Fäusten aufeinander losgehen. Liberale Ökonomen wollen nur nicht wie linke Ideologen und Interventionisten, dass der Schiedsrichter selbst mitspielt und für die unterlegene Mannschaft Tore schießt. So hat er es einmal in einem Interview gesagt mitten in der Finanzkrise 2008.

Nebenbei hört man hier eine der vielen Stärken Sinns: Zwar kann er, wenn er will, in einer sehr abstrakten mathematischen Modellsprache sich verständigen. Er kann aber auch sehr anschaulich in Bildern und Vergleichen sprechen - so wie hier mit dem Beispiel des Sports. Sinn hat einen Sinn für Bilder. Und seine Bilder sind nie schief.

Auch den Sozialstaat will Sinn nicht schrumpfen. Er fordert lediglich, dass der Staat effizient ist, wenn er Geld umverteilt und dass er die richtigen Anreize setzt, damit das Engagement der Menschen (Arbeit oder Investitionen) sich lohnt. Solche Effizienz vermeidet die Verschwendung von Steuergeld der wirtschaftlich erfolgreichen Bürger.

Sinns affirmative Theorie des Sozialstaats beruht auf einem „Umverteilungsparadox“, welches die stärkste Entkräftung des Neoliberalismusvorwurfs darstellt. Es geht so: Weil der Wohlfahrtsstaat Verlierer nicht hängen lässt und die Bürger sich darauf verlassen dürfen, sind sie dazu bereit, höhere Risiken einzugehen als sie es ohne diese „Staatsversicherung“. Denn im Fall des Scheiterns erhalten sie Transfers, im Erfolgsfall aber beziehen sie eine Risikoprämie als höheres Einkommen: So führt der Sozialstaat trotz Umverteilung zu mehr Geld in den Taschen seiner Bürger.

Sie haben es gehört: Sinn warnt (hier) eben nicht vor „Moral Hazard“ und Trittbrettfahrerei als Folge des Umverteilungsversprechens. Er hat das positive Bild des motivierenden Sozialstaats, nicht das negative der „Hängematte“.

So, damit hätten wir bis hierher zweierlei geklärt: An Hans Werner Sinn liegt es nicht, dass der Liberalismus an Strahlkraft verloren hat, seit Francis Fukuyama seine These vom liberalen Paradies aufgestellt hat. Und: Nicht zuletzt das Umverteilungsparadox prädestiniert Hans Werner Sinn für den Karl Hermann Flach Preis, dessen Namensgeber ja ein „Sozialliberaler“ ist. Wenn Sie so wollen, ist Hans Werner Sinn auch ein Sozialliberaler - auch wenn das die öffentlich-rechtlich-links-grüne Welt vermutlich noch nicht bemerkt hat.

 

4.

Es muss im Frühjahr 1990 gewesen sein. Da gab es in der Wirtschaftsredaktion der FAZ einen Praktikanten namens Ottmar Edenhofer. Er war Jesuit, also ein katholischer Ordensmann und studierte in München Ökonomie und Philosophie. Ich war ein junger Wirtschaftsredakteur und wollte von Edenhofer wissen, wer denn da an der Uni in seinem Fach interessant sei. Edenhofer zögerte nicht und begann, von einem Finanzwissenschaftler namens HWS zu schwärmen.

Diesen Sinn kannte damals keiner bei uns, obwohl der Mann doch schon seit den achtziger Jahren Ordinarius an der LMU war und offenbar eine Fangemeinde von Studenten um sich scharte (meine Kollegin und Freundin Inge Kloepfer kam später in die Redaktion und tutete in dasselbe Horn). Aber eben, von Sinn hatte noch keiner gehört, auch Hans D. Barbier nicht, unser Meister. Da waren Herbert Giersch, Olav Siefert oder Joachim Starbatty die Helden. Also tatsächlich traditionelle deutsche Ordnungsökonomie mit besonderer Berücksichtigung der Saarbrücker Schule. Allerdings, dies nur nebenbei, nicht die Saarbrücker Schule der „rational choice“ und „public choice“. Die brachte erst Karen Horn in die Redaktion.

Es war freilich nicht nur unsere Schuld, dass wir von HWS noch nichts gehört hatten. Schaut man sich die Publikationsliste Sinns an, dann markiert das Jahr 1991 eine Zäsur: Das Outing des Akademikers als „public intellectual“. Die Zäsur markiert das Buch „Kaltstart“, wo die Autoren Gerlinde und HWS analysieren, was bei der Transformation der DDR-Wirtschaft in  eine Marktwirtschaft falsch lief. Kurz gesagt: eine schnelle Lohnangleichung (an der bekanntlich nicht nur die Gewerkschaften, sondern auch die Unternehmer interessiert waren) und eine mangelnde Klärung von Eigentumsrechten. Womöglich ging es damals schon los, dass die liberale Marktwirtschaft einen ersten Reputationsschaden erlitten hat.

Ottmar Edenhofer, das wäre noch nachzutragen, hat den Jesuitenorden alsbald verlassen. Heute ist er bekanntlich Präsident des Potsdamer Instituts für Klimaforschung und weltweit einer der führenden Ökonomen für die Ökonomie des Klimawandels. Dass Edenhofer seine Wurzeln in den Vorlesungen bei HWS nicht verleugnet, kann man seinen politischen Empfehlungen entnehmen, aber auch einem sehr schönen Gespräch zwischen Sinn und Edenhofer vom Februar diesen Jahres (zu finden auf der vorzüglich gepflegten Webseite Sinns, die auch jedem Laudator die Arbeit einfach macht).

Ich muss nun raffen. Nach dem „Kaltstart“ ging es Schlag auf Schlag. Mindestens alle zwei Jahre ein schrieb Sinn ein Buch. Und zwar immer das richtige. Und immer eines mit einem einprägsamen Titel: Denken Sie an Casino-Kapitalismus, Basar-Ökonomie, Target-Falle (ein Phänomen), das grüne Paradoxon (dazu gleich noch mehr), der Corona-Schock, die wundersame Geldvermehrung. Ich glaube, ich habe (wie die meisten meiner Kollegen) alle gelesen - würde eine Prüfung nicht bestehen, aber die These jedes Buches grob referieren können, was nicht schwer ist, denn sie steht ja wie es sich gehört schon im Titel.

 

5.

Sinn ist ein exzellenter Ökonom - was selbst seine Gegner nicht bestreiten. Er versteht es, Themen zuzuspitzen. Und er hat eine Spürnase für Aktualität und Relevanz, eine Gabe, die man eher von Journalisten erwarten würde. Stets hat er sich prominent in die öffentliche Debatte eingemischt. Seine publizistische Umtriebigkeit versteht er als Einlösung einer Bringschuld des Ökonomen an der Gesellschaft, die ihn sein Berufsleben lang mit Steuergeldern finanziert habe. Konsequenterweise hat er auch nach seiner Emeritierung nicht nachgelassen, diese Bringschuld abzutragen - denn auch die Pensionen kommen vom Steuerzahler. Ich glaube, der Steuerzahler kann zufrieden sein. Das Investment hat sich gelohnt.

Sinn ist, was man nicht vergessen sollte, auch ein exzellenter Wissenschaftsorganisator und Unternehmer. 1999 übernimmt er das Münchner Ifo-Institut. Es war damals in einem ziemlich lausigen Zustand. Direktor Sinn hat daraus die Sinn-Fabrik gemacht, eine weltweit respektierte Forschungsinstitution (vor allem das CES), die zugleich der aktiven und kritischen Politikberatung dient.

Was ist das Verbindende der Vielfalt der Sinnschen Aktivitäten? Lars Feld, Chef des Eucken-Instituts in Freiburg und Ex-Vorsitzender des Sachverständigenrats, nennt ihn den „Weitsichtigen“. Das gefällt mir am besten. Ein Prophet (der bekanntlich nicht selten im eigenen Land nichts gilt), aber kein falscher Prophet im Sinne von Karl Popper. Sondern einer der analysiert, was falsch läuft - und zwar vorher. Und daraus keine deskturkive Apokalyptik macht. Sinnds Rollenmodell ist indes nicht der Prophet, sondern der Arzt: „Meine Bücher sind warnend, weil es medizinische Bücher sind“, sagt er: „In Medizinbüchern geht es um Krankheiten und Heilungsmöglichkeiten. Da sagt auch niemand, es gehe nur um Krankheiten.“

Ich will diese Weitsichtigkeit an zwei Büchern zeigen - am „grünen Paradoxon“ und an der „wunderbaren Geldverschwendung“.

Das „grüne Paradoxon“ von 2008 geht so: Die Politiker glauben, wir könnten durch grüne Gesetze, die unsere Nachfrage nach fossilen Brennstoffen verringern, die Emissionen von Kohlendioxid reduzieren und so das Klima retten. Aber wie soll das gehen? Mit unserer Energiesparpolitik können wir das weltweite Angebot an Kohlenstoff nicht aushebeln. Wir mindern lediglich partiell die Nachfrage und verringern dadurch den Anstieg der Weltmarktpreise, mehr nicht. Damit verschlimmern wir das Problem vermutlich noch. Immerhin müssen die vorhandenen Ressourcen irgendwann aus der Erde herausgeholt werden, wenn man sie verwerten will. Bedrohen wir die Ressourcenbesitzer mit einer immer grüner werdenden Politik, die ihnen das zukünftige Geschäft kaputtmacht, kommen sie der Bedrohung zuvor und fördern ihre Bodenschätze nur noch schneller. Statt den Klimawandel zu bremsen, beschleunigen wir ihn. Das ist das grüne Paradoxon.

Und der Ausweg? Wir müssen am Angebot an CO2 ansetzen. Das heißt, wir müssen einen Emissionshandel weltweit verbindlich machen, der Marktpreise für CO2 hat und Anreize zur Emissionsvermeidung setzt. Außerdem braucht es einen Klimaklub, dem alle Staaten beitreten, um Trittbrettfahrerei zu vermeiden. Heute ist das unter Ökonomen Konsens. Aber Sinns Buch ist von 2008 - der Weitsichtige. William Nordhaus hat seine Theorie des Klimaklubs 2015 entwickelt, wenn ich es richtig nachgeschaut habe, und 2018 den Nobelpreis gewonnen.

Die „wundersame Geldvermehrung“ von 2021 geht so: Europa ist in den letzten Jahren von einer Krise zur nächsten geschlittert. Die Staatsschulden und die Geldmenge wuchsen. Zugleich hat die Pandemie zu erheblichen Mangelerscheinungen bei der Güterversorgung geführt. Wegen des so entstandenen Nachfrageüberhangs droht eine Inflation. Die Schuldenquoten der Euroländer haben sich bei wichtigen Euroländern zwischen 2008 und 2021 verdoppelt. Im gleichen Zeitraum hat sich die Geldmenge versiebenfacht und die Zinsen sind in den Keller gerauscht. Das belastet nicht nur die Sparvermögen der Kleinsparer. Hinzu kommt nun die Gefahr einer Entwertung des Vermögens durch eine Inflation.

Die Inflation hat bereits begonnen. Am aktuellen Rand liegt die Inflationsrate bei den Konsumgüterpreisen bei 4,5%, und die Inflation der gewerblichen Erzeugerpreise liegt schon über 14%. Das ist der höchste Wert seit einem halben Jahrhundert. Die EZB müsste die Inflation nun bremsen, aber sie spielt die Gefahr herunter. Damit spielt sie aber auch mit dem Feuer.

Was folgt daraus? Europa muss schleunigst wieder auf den Pfad einer soliden Geldpolitik zurückkehren. Nur dann kann das Vertrauen in den Euro bestehen bleiben und der europäische Traum von Wohlstand und Frieden gerettet werden.

Heute ist auch das Konsens. Aber Sinns Buch ist Mitte 2021 erschienen. Damals wurde die Inflation entweder generell geleugnet. Oder aber gemäß der Lehre im Team Transitory als vorübergehend verniedlicht. Die vielen Konvertiten reden sich jetzt damit heraus, dass sie den Krieg Putins nichts vorhersehen konnten. Aber die Inflation hätten wir heute auch ohne den Krieg, nur nicht so hoch.

 

6.

Sinn hat viele Preise bekommen. Er hat viele Laudationes zu hören bekommen. Das schönste Lob fand ich ausgerechnet bei einem Kollegen, der ihm eigentlich meistens widersprochen hat - bei dem Zeit-Journalisten Marc Schieritz. Ich will es Ihnen nicht vorenthalten.

1. Er hat ein Gespür für Themen: Jedes Jahr werden Tausende von ökonomischen Fachaufsätzen veröffentlicht und die meisten davon sind für wirtschaftspolitische Debatten so interessant wie das Muster einer Raufasertapete. Hans-Werner Sinn dagegen hat in seinen Büchern und Aufsätzen die großen Themen seiner Zeit auf den Punkt gebracht.

2. Er hat es drauf: Man kann Hans-Werner Sinn vieles vorwerfen, aber in der Regel hat er zu allen diesen Themen wichtige Punkte gemacht.

3. Er ist Ökonom: Man hat Sinn oft vorgeworfen, er stehe für eine kalte ökonomische Sicht der Dinge, die die Menschen und die politischen Beschränkungen staatlichen Handelns außen vor lasse. Mein Gott: Der Mann ist Ökonom und nicht Bundeskanzler. Ob man nun seine Schlussfolgerungen teilt oder nicht: Was ihn motiviert, ist die res publica und nicht das Partikularinteresse.

4. Er denkt in Modellen: Hans-Werner Sinn ist ein wandelndes Lehrbuch. Der Homo oeconomicusdas zur Rationalität befähigte Individuum, ist bei aller berechtigter Kritik immer noch eine hilfreiche Fiktion – zumindest als Ausgangspunkt einer Analyse und zur Strukturierung von Gedanken. Verhaltensökonomische Ansätze mögen die Bedingungen menschlichen Handelns besser abbilden, kommen aber häufig über das Deskriptive nicht hinaus, weshalb sie in der Wirtschaftspolitik nur bedingt weiterhelfen.

5. Er ist ein feiner Kerl.

Und das schönste Interview, das ich gesehen habe, gibt es auf „Jung & Naiv“. Da dutzt man sich. Sinn macht alles mit ohne sich einzuschmeicheln. Und er ist selbst am meisten gerührt als er erzählt, wie stolz sein Vater, eine kleine Taxis-Unternehmer im Westfälischen, war, als er, der Sohn, die Aufnahmeprüfung bestanden hat. Später war dann die Entfremdung größer.

7.

Ich komme am Schluss zurück auf Karl Hermann Flach. Alles kommt heute daraus an, „den immer wieder aufbrechenden Freiheitsdrang der Menschen“ (Flach) am Leben zu erhalten und zu unterstützen. Diesen Freiheitsdrang kann man sehen, zum Beispiel im Kampf der Ukrainer für ihre Freiheit, der - es wurde oft schon gesagt - auch ein Kampf für die westlichen Werte ist.

„Da der Liberale weiß, dass in jeder Gesellschaft das Element der Macht wirkt und diese Macht nicht zu eliminieren ist, versucht er sich nicht an der Abschaffung, sondern sieht seine Aufgabe in der Begrenzung, Aufteilung und Kontrolle der Macht und im Offenhalten der Chance zur Ablösung derjenigen, welche die Macht ausüben.“ Und Flach fährt fort: „Die geistige Stärke des Liberalismus bedingt seine organisatorische Schwäche.“ Es ist die Schwäche des liberalen Intellektuellen, als welchen ich HWS zu beschreiben versucht habe. Er hat das Wort und nur das Wort.

Was man mit Worten alles machen kann und wie man sich mit vernünftigen Worten Leser und Gehör verschafft, das beweist HWS seit vielen Jahren. Dies ist sein „besonderes Engagement für die Fortentwicklung des politischen Liberalismus“, wie es in den Statuten der Stiftung heißt.

Deshalb gebührt ihm der Karl-Hermann-Flach Preis.
 

Ich gratuliere von Herzen.

Dr. Rainer Hank
Dr. Rainer HankHelmut Fricke